Lean Malin Wejwer

 

Die Sehnsucht nach Leben

 

 

Ich stehe am Hauptbahnhof. Überlege, ob ich rechts auf die Toilette soll oder links. Es wäre mir lieber, ich müsste gar nicht, aber ich bin ein Mensch und Menschen müssen, was sie müssen. Ich schaue an mir runter. Sehe ich heute eher männlich aus oder eher weiblich? Ich seufze. Ich hasse solche Abwägungen. Aber ich hasse es auch, auf der Toilette angeschnauzt zu werden, weil irgendwer der Meinung ist, dass ich hier falsch bin. Das Problem ist nur, dass ich auf allen Toiletten falsch bin. Selbst auf der Behindertentoilette, die zwar für Menschen jedes Geschlechts ist, aber eben nur für Menschen mit Rollstuhl. Und wie jemand, der im Rollstuhl sitzt, sehe ich auch nicht aus. Ich atme tief ein, schaue, ob ich beobachtet werde und entscheide mich für rechts. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Auch wenn das jetzt seit einem Jahr so geht und es auch davor nicht wirklich einfach war – und trotzdem, ich fühle mich jedes Mal wie ein Schwerverbrecher. Jedes Mal, wenn ich aufs Klo gehe. Jedes Mal, wenn ich Klamotten kaufe. Jedes Mal, wenn ich das Haus verlasse. Dabei hab ich nichts getan. Na ja. Außer am Leben zu bleiben.

„Rein statistisch wollen die meisten Menschen, die sterben wollen, gar nicht sterben“, meinte die Psychologin vor einem Jahr. Ich sah sie skeptisch an. Eigentlich war ich mir sicher, dass ich lieber tot wäre, als hier auf der Geschlossenen. Sie legte den Kopf leicht schief und lächelte mich an: „In Wirklichkeit ist die Sehnsucht nach dem Tod oft eine sehr große Sehnsucht nach Leben. Eine Sehnsucht, die im bisherigen Leben nicht erfüllt wurde. Verstehen Sie, was ich meine?“ Mein Kopf brummte. Möglicherweise lag das an der Überdosis Tabletten, die ich genommen hatte und mit der ich den Gang über die Schienen hatte schmerzfreier gestalten wollen. Auch wenn ich in all der Betäubtheit dann nicht mehr mitgekriegt habe, dass das Gleis, auf dem ich es mir bequem gemacht hatte, seit Jahren nicht mehr angefahren wurde. Das hatte zumindest die Feuerwehr gesagt, die mich gefunden hat. Aber war das jetzt Sehnsucht nach Leben? „Wie müsste denn Ihr Leben aussehen, damit Sie bereit wären, es weiter zu leben? Damit es vielleicht sogar schön wäre, weiterhin am Leben zu bleiben?“ Sie sah mich an, als wäre sie nicht die Notfallpsychologin, sondern ein Golden Retriever. Irgendwas war da drin in ihrem Blick, das Gefühle an die Oberfläche holte. Erinnerungen. Traurigkeit. Wut. Verzweiflung. All die Momente, die ich vorm Spiegel stand und dachte: „Das kann nicht ich sein!“ Fotos, auf denen ich aussah, als stünde ich kurz vor der Hinrichtung. Das Gelächter der anderen Kinder. Die enttäuschten Blicke meiner Eltern, weil ich es mal wieder nicht geschafft hatte, normal zu sein. Weil sich „normal“ für mich anfühlte, wie die Vorstufe zur Hölle.

Es hat noch eine Weile gedauert, bis ich aussprechen konnte, was mir in dem Moment durch den Kopf schoss, aber eigentlich war mir ab dem Augenblick klar, dass ich eine schier unaushaltbare Sehnsucht hatte, endlich ICH zu sein. Auch wenn es mich noch einige Gespräche und Internetrecherchen kostete, herauszufinden, was dieses ICH überhaupt war. Was irgendwo ironisch ist, weil die anderen Kinder das schon in der Unterstufe bemerkt hatten. Es tat so weh, wenn sie mir „Neutrum“ und „Zwitter“ hinterher riefen und dann brüllten vor Lachen und mit ihren Fingern auf mich zeigten, als wäre alles, was ich sagte oder tat irgendwie eklig. Das war es nicht, aber irgendwo hatten sie tatsächlich Recht. Ich habe kein Geschlecht. Auch wenn mein Körper aussieht, als hätte er eins, aber in meinem Gehirn und in meinem Herzen, da ist das Papier weder kariert noch hat es Linien, es ist einfach weiß. Die anderen Kinder, meine Eltern, die Erwachsenen an der Schule, die Gesellschaft, sie alle haben mir mein ganzes Leben lang das Gefühl gegeben, dass ich falsch war. Dass es „so etwas wie mich“ nicht geben dürfte. Aber es gibt mich. Genau wie es nicht nur Blau gibt und Rot, sondern auch Grün, Gelb und Lila und Milliarden anderer Farben. Was wäre ein Regenbogen in Schwarz-Weiß? Oder in Rot-Blau? Er wäre so wohl kaum ein Symbol geworden für die Hoffnung und das Leben. Das Leben trotz allem.

Und nun ist heute also mein erster Geburtstag. Mein erster Geburtstag, der eigentlich mein erster Todestag hätte sein sollen, aber doch nichts anderes wurde, als der Beginn eines neuen Lebens. Meines Lebens. Ich habe einen neuen Namen. Ich habe neue Freunde. Eine neue Frisur. Und trotzdem bin ich immer noch ich. Wie eine Raupe, die sich endlich verwandelt hat. Selbst wenn auch das Leben als Schmetterling nicht immer lustig ist und man immer wieder unterschätzt, wie viele Feinde „Schmetterlinge“ in unserer Gesellschaft noch haben, aber ich habe das Gefühl, ich kriege zum ersten Mal in meinem Leben Luft.

Ich bin froh, dass die Waschbecken frei sind, denn so habe ich Zeit, mich einen Augenblick im Spiegel zu betrachten. Früher hatte ich nur Verachtung und Traurigkeit für diesen Menschen übrig, der mir entgegen geblickt hat. Heute ist das anders. Dieser Mensch ist mir noch fremd, noch immer etwas ungewohnt und doch, es fühlt sich an, als wäre das ich. Als wäre es richtig. Als wäre es gut. Ungeachtet dessen, was die Gesellschaft denkt, die unter dem „divers“ in m/w/d doch oft noch eine Art „Gender-Restmüll“ versteht, in den alles gepackt wird, was nur eingeschränkt recycelbar ist und nirgendwo so richtig hinpasst. Aber ich gehöre nicht in den Restmüll. Ich bin Teil des Regenbogens.

Lächelnd puste ich mir eine bunte Strähne aus dem Gesicht. Die Psychologin hatte Recht: Es war eine Sehnsucht nach Leben. Und auch wenn sie eher geschaut hat wie ein Golden Retriever, war sie doch die Taube, die mir den Ölzweig gebracht hat, den Ölzweig als Verheißung einer neuen Zukunft. Mein Spiegelbild grinst. Der Mensch, der mich im Spiegel anschaut, ist kein Mann. Der Mensch, der mich im Spiegel mich anschaut, ist keine Frau. Der Mensch, der mich im Spiegel anschaut – ist glücklich.